Antonio Vivaldi – The Four Seasons
Fidelity Magazin | 1 marzo 2012
Ein leichtes Gähnen kommt auf, wenn Aufnahme zweihundertirgendwas mit den Vier Jahreszeiten auf den Tonträger-Markt kommt. Warum stets dasselbe Repertoire? Gibt es nichts Neues zu entdecken? Vivaldi wurde im letzten Jahrhundert mehrmals auf Tonträger karajanisiert, in den letzten Jahrzehnten drängten jedoch – nicht zuletzt aufgrund der Beschäftigung mit der historischen Aufführungspraxis – mehr und mehr junge Ensembles auf die Bühne, die den oft abgenudelten und brav dargebotenen Konzerten völlig neue Facetten entlockten. Als meine persönlichen Favoriten seien hier die Einspielungen mit dem Venice Baroque Orchestra sowie der famose Gilles Apap mit seiner multikulturellen Truppe genannt. Das Münchner Label Winter & Winter liefert nun den nächsten Streich ab: Die Produzenten kombinieren die vier Konzerte in einer Einspielung des spanischen Ensembles Forma Antiqva mit jeweils vier kurzen und avantgardistischen Improvisationen der Jazzer Uri Caine und Theo Bleckmann.
Grundlage für die Programmmusik Vivaldis sind vier italienische Sonette, in denen die Jahreszeiten beschrieben werden. Der Text findet sich exakt in der Partitur wieder, denn Vivaldi komponiert die Sonette aus und macht deren Inhalt lautmalerisch deutlich. Wenn Vögel ihre Tweets absetzen, ein Sommersturm durch die Landschaft braust, der Waidmann das Wild jagt und erlegt, eisig-klirrende Kälte herrscht, hört man das alles. Wobei ich sagen kann, dass ich es nie so deutlich wie auf dieser Scheibe gehört habe. Die Detailfülle überflutet den Hörer zunächst, denn der Tonmeister nahm die Musiker beinahe wie im Rock-Konzert ab: direkt und mit wenig Raum.
Der musikalische Leiter von Forma Antiqva ist Aarón Zapico, ein spanischer Cembalist und Dirigent. Für die Jahreszeiten besteht sein Ensemble neben der Solo-Violine aus einer kleinen Streicher-Besetzung mit sechs Geigen, zwei Bratschen, zwei Celli und Bass. Bemerkenswert ist nun, dass Zapico die für ein Concerto Grosso erforderliche Continuo-Gruppe vergrößert hat. Der Spanier leitet vom Cembalo aus, hat daneben aber noch einen zweiten Continuo-Spieler für Cembalo und Truhenorgel sowie seine Brüder Pablo und Daniel mit Barockgitarre, Erzlaute und Theorbe. Die klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten vervielfachen sich damit.
Zunächst war ich beim ersten Hören skeptisch. Reicht es aus, vor jedes Konzert eine Jazz-Improvisation zu stellen und das Ganze als Novität zu verkaufen? Sicher nicht. Beschäftigt man sich jedoch näher mit der Idee, wird klar, dass es keine Crossover-Platte sein soll, sondern Barock und Jazz hier aufeinander prallen und sich gegenseitig ausleuchten und interpretieren. Theo Bleckmann und Uri Caine nehmen in ihren Improvisationen bei jedem Konzert die Stimmung vorweg und schaffen damit etwas völlig Eigenes. Während Bleckmann die ursprünglich italienischen Sonette auf Englisch rezitiert, singt, summt, deklamiert, flüstert, haucht, gibt Caine seine Ideen auf Klavier und Synthesizer hinzu. Das kann beispielsweise im Frühling lyrischer Gesang mit lautmalerischen Vogellauten im Klavier sein, im Herbst aber auch ein jazziger Reggae mit Wah-Wah-Synthesizer, der motivisches und harmonisches Material von Vivaldi aufgreift. Die flirrende Hitze im Sommer wird durch oszillierende Flächen dargestellt, die ähnlich einer optischen Täuschung von Escher akustisch stets nach oben streben, aber letztendlich auf der Stelle verharren. Eisige Kälte und Nordwinde werden mit minimalistischen elektronischen Mitteln und Klangflächen in Form eines fast schon surrealistischen Hörspiels wiedergegeben. Allein diese vier Jahreszeiten von Bleckmann und Caine ergeben eine Kunstform, von der man mehr hören möchte.
Die Herangehensweise von Forma Antiqva ist schlichtweg grandios. Wie junge Stiere preschen die Spanier mit irrwitziger Spielfreude auf die Jahreszeiten los, brillieren mit mühelos erscheinender Virtuosität, lassen es aber auch an innigen Momenten nicht fehlen. Mit ihrem südländischem Impetus sind sie flott unterwegs, wirken aber nie gehetzt, sondern stets im Fluß der Musik. Die Musiker spielen auf historischen Instrumenten oder Nachbauten und nutzen deren klangliche Möglichkeiten und Spieltechniken voll aus. Das Lautmalerische in Vivaldis Musik wird sensationell und höchst kreativ ausgedeutet: Schiefe, gar falsche Töne, die teils aggressive Behandlung der Saiten mit Bogen und Holz, dann wiederum zärtliches Werben der Turteltauben in der Solo-Violine – all dies überfällt den Hörer geradezu und erweckt die Überzeugung, dass es nur so und nicht anders sein kann.
Das Neue an Zapicos Interpretation ist auch die ungewohnte Freiheit der musikalischen Deutung. Dynamik und Tempi werden neu definiert, der hervorragende Solist Aitor Hevia kann sich Rubati erlauben, die bei vielen Dirigenten verpönt wären. Im langsamen Satz des Herbsts gönnt sich Zapico über Orgel- und Streicherharmonien als Bonbon ein großes Cembalo-Solo. Insgesamt kommt die Aufnahme durch ihre Abmischung einem Live-Erlebnis verflixt nahe. Das Atmen der Musiker – beispielsweise im Finalsatz des Winters – ist ebenso zu hören wie das Rutschen auf den Griffbrettern der Streichinstrumente. Geht noch mehr Live? Die Jahreszeiten von Forma Antiqva sind jedenfalls meine neue Referenz, wenn ich eine Anlage ans Limit führen und pures Musikantentum erleben will. Wer den alten Vivaldi neu erleben will, kommt an dieser CD nicht vorbei!
Enlace
https://www.fidelity-magazin.de/2017/08/21/classidelity-antonio-vivaldi-the-four-seasons/
Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione
The Contest between Harmony and Invention
Aitor Hevia;
Theo Bleckmann;
Uri Caine; Aarón Zapico;
Winter & Winter febrero 2012
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